Wohin mit dem digitalen Ich? Ein konstruktiver Vorschlag aus gegebenem Anlass

Felix Oldenburg
2 min readMay 10, 2021
August Macke: Spiegelbild im Schaufenster

Ja, ich habe schon wieder ein Passwort vergessen. Deshalb nutze ich für immer mehr Webseiten und Apps die Authentifizierung über eine der großen Internetplattformen. Und weil das alle so machen, konzentriert sich die Macht über unsere Daten immer weiter.

Ebenso unsicher wie Google, Amazon und Co. macht mich aber im “Registermodernisierungsgesetz” enthaltene Plan der Bundesregierung, aus der Steuernummer eine Identität nicht nur für alle möglichen staatlichen Leistungen machen, sondern eben zu dem, was ich am liebsten weder in staatlicher noch in privater Hand will: Einen Schlüssel zu meinem Leben.

Dieses Leben hat gerade im vergangenen Jahr einen erneuten Digitalisierungsschub erhalten. Und wir haben erfahren, wie groß der Preis ist, den wir für das Fehlen digitaler Infrastrukturen zahlen, sei es bei der Infektionsvermeidung, Home Office und Homeschooling oder bei der Impfstrategie. Und weil es für jedes auch noch so schwer abgrenzbare gesellschaftliche Phänomen mittlerweile volkswirtschaftliche Kostenschätzungen gibt, sei hier auch eine zitiert: McKinsey schätzt die Kosten für die aufwändige Bestätigungsverwaltung über Meldeämter, Wartezimmer und Postwege bis 2030 auf 3–13% des BIP.

Das digitale Ich wird kommen, so oder so. Wir können uns nur noch aussuchen, wem es gehört.

Das Problem: An Zugangsdaten hängen meist Nutzungsdaten. Zusammen ergeben sie ein praktisch lückenloses Bild aller Online-Aktivitäten. Und kombiniert mit GPS und biometrischen Informationen ermöglichen sie sogar eine Echtzeiterfassung und Speicherung aller Bewegungen in der Offline-Welt. Wer will sich das in der Hand staatlicher Überwachungssysteme oder privater Profitinteressen vorstellen?

Der Gegenentwurf und Traum vieler Netzaktivisten: Meine Daten gehören nur mir. Sie werden nur auf meinen Geräten gespeichert. Aber diese Self Sovereign Identity ist eben ziemlich anspruchsvoll, trotz mittlerweile wirklich guter Passwortmanager.

In der Wirklichkeit siegt meist die Bequemlichkeit. Deshalb gewinnen die privaten Plattformen, die zunehmend Identitätsdienstleister werden. Sie sind gegenüber staatlichen Lösungen auch nicht unbedingt schlechter. Immerhin ist die Kritik an der Marktstellung etwa von Google so gewachsen, dass das Unternehmen nun plant, sein Tracking über verschiedene Anwendungen einzustellen. Das ist ein ermutigendes Zeichen.

Es gibt aber eine Alternative, die so alt ist wie das Internet selbst: Dessen Infrastruktur wird zu einem guten Teil regiert von zivilgesellschaftlichen Organisationen, in denen die Nutzenden repräsentiert sind. Ein guter Teil der offenen Software liegt inzwischen in Stiftungen, die als Eigentumslösung im Diskurs hierzulande gar nicht vorkommen.

Es ist Zeit für eine unabhängige und gemeinnützige Authentifizierungs-Plattform, am besten europäisch, angeschoben durch staatliche Finanzierung, langfristig abgesichert durch Mikro-Gebühren der Händler und Nutzende, regiert durch gewählte Vertretende aller Stakeholder.

Statt zu verlangen, dass wir technische Experten werden, wäre es viel sinnvoller zu erwarten, dass wir mündige digitale Bürger werden. Hier wäre eine wichtige Gelegenheit dazu.

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Felix Oldenburg

Co-founder bcause, board gut.org, previously CEO @stiftungstweet, father, author, geek, social entrepreneur, long time with @Ashoka