PhilTech. Was macht die Digitalisierung mit Stiftungen? (2018)

Felix Oldenburg
7 min readNov 29, 2020

Drei Entwürfe zur Wirkung der Digitalisierung auf die Philanthropie: Könnten Stiftungen zu passiven Investmentvehikeln, zu digitalen Kollaborations-Plattformen oder zu neuen Eigentumsmodellen für Daten werden? (zuerst erschienen 2018 in dem Magazin “Stiftungswelt”)

Die chinesische Regierung hat ein Social Credit-System eingeführt, das allen Einwohnern eine Punktezahl für Konsum, Kreditwürdigkeit und Konformität geben soll. Der Gründer der Kryptowährung Ripple ist kurzfristig in die Liste der zehn reichsten Menschen der Welt gerutscht. Das Computerprogramm AlphaZero hat sich gerade autonom Spiele von Schach bis Go beigebracht und gegen die vormals stärksten Programme gewonnen.

Drei fast zufällig ausgewählte Nachrichten aus den ersten Tagen des Jahres 2018. Drei weitere Schritte in Richtung digitaler Überwachung, Krypto-Business, autonomer Systeme. Es gäbe von Hunderten mehr zu schreiben. Wenn Sie diesen Artikel in einem Jahr wieder zur Hand nehmen, sind das alles alte Hüte. Die Geschwindigkeit des digitalen Wandels provoziert sehr unterschiedliche Reaktionen, und jede Haltung findet ihren Bestätigungs-Bubble. Wer es technologieoptimistisch mag, surft durch 18-Minuten-TED-Talks der globalen Tech-Prominenz. Wer skeptischer ist, dem spricht der prominenteste Deutsche im Silicon Valley, Peter Thiel, in seinem Manifest „What happened to the Future?” (mit Anspielung auf das bereits obsolete Zeichenlimit bei Twitter) aus dem Herzen: „Wir wollten fliegende Autos, und bekamen 140 Zeichen“. Wer statt Sarkasmus Dystopie möchte, hat vermutlich an der britischen TV-Serie “Black Mirror” Freude.

Die üblichen Reflexe

Unsere Reaktionsmuster auf technologischen Wandel folgen ausgetretenen Pfaden. Kathrin Passig beschreibt treffend mit ihren Standardsituationen der Technologiekritik (Merkur 727, 12/2009), wie das Neue immer wieder zuerst als nutzlos und lästig empfunden wird — beobachtbar bereits bei der Einführung von Wegweisern oder später Straßenlaternen. Dann wird gefragt, wer so etwas nutzen wolle — im Zweifel nur kleine Minderheiten. Wer sonst könnte etwa sprechende Schauspieler den Stummfilmen vorziehen (Harry Morris Warner, 1930er) oder sich vor einen Bildschirm setzen wollen statt Bücher zu lesen? Alsbald werden Neuerungen als vorübergehende Hypes abgetan, bevor sie dann doch als gefährlich bekämpft werden. Das Internet etwa sei vor allem für Terroristen und die Porno-Industrie nützlich oder mache doof (Henryk Broder 2007). Schließlich findet man sich mit der Innovation ab, beschwert sich aber über ihre Unverlässlichkeit, Unbequemlichkeit, Kosten und Nebenwirkungen. Die Hoffnung, das Rad ließe sich zurück drehen, stirbt nie, und macht sich in der letzten Stufe der Kritik in der Sorge um vermeintlich Schwächere erkennbar, die Neues nicht oder nicht verantwortlich nutzen können — ein Argument, das schon gegen Goethes Werther vorgebracht wurde (Stadtrat Leipzig 1775).

Im Kern angekommen

Die Digitalisierung ist nicht mehr neu, auch für Stiftungen nicht. Aber sie ist immer noch am Anfang. Und: Die Digitalisierung beschleunigt sich selbst. “Was analog war, wird digitalisiert. Was digital ist, wird gespeichert. Was gespeichert wird, wird durch Algorithmen verarbeitet”, bringt Thomas Friedman auf den Punkt (Thomas Friedman, Thank You For Being Late, 2017). Seit drei Jahrzehnten transformiert sie einen gesellschaftliche Bereich, einen unternehmerisches Geschäftsmodell nach dem anderen. Natürlich auch Stiftungen. Sie betrifft nicht mehr nur die operative Arbeit in Buchhaltung oder in der Kommunikation von Stiftungsarbeit, sondern sie ist im Kern vorgedrungen, sie verändert das Stiftungswirken, ja sogar nicht selten die Ziele selbst.

Fast für jeden Stiftungszweck lassen sich inzwischen neue Wirkungsmodelle finden. Analog zu „FinTech“ könnte man von „PhilTech“ sprechen. Wer Demokratie fördern will, kommt um die Potenziale und Gefahren der sozialen Netzwerke nicht mehr herum, kann sich digitale Mobilisierung von der Petitionsplattform change.org abschauen, wie die Hertie-Stiftung beim Deutschen Integrationspreis auf Crowdfunding setzen, oder lernen, wie der Dialog zur Politik bei abgeordnetenwatch.de funktioniert. Gleichermaßen zeigen die Beeinflussung sozialer Medien vor der Wahl Donald Trumps, die digitale Unterdrückung demokratischer Aktivisten in Diktaturen oder die Online-Rekrutierung von Salafisten hierzulande auf, wie das Internet der Demokratieförderung nicht nur neue Instrumente, sondern auch neue Herausforderungen bereitet.

Wer Bildungschancen verbessern möchte, nutzt wie die Robert Bosch Stiftung oder die Siemens Stiftung und andere zunehmend die enorme Skalierung von Selbstlern-Angeboten (MOOCs) nach dem Vorbild etwa der Khan Academy (bzw. ihrem deutschen Nachzügler serlo.org), oder neue Zugangswege zu höherer Bildung wie beim Flüchtlingsprojekt kiron, das maßgeblich von deutschen Stiftungen finanziert wurde. Gleichzeitig haben Bildungsstiftungen neue Probleme wie Digital Divides, Cybermobbing oder Medienabhängigkeit zu bewältigen.

Wer in der Entwicklungszusammenarbeit tätig ist, wird die Direktheit von Plattformen für Kredite wie kiva und Spenden wie betterplace oder die Effizient von Givedirectly schätzen oder von Big Data etwa wie die Gates-Stiftung in Indien profitieren, die Vergleichsindikatoren einzelner Stadtbezirke nutzt, um Strategien zu vergleichen und laufend anzupassen.

Die Liste ließe sich endlos fortsetzen. Aber es fällt auf, dass nur wenige der Beispiele von Stiftungen selbst entwickelt oder entscheidend gefördert wurden. Erst wenige Stiftungen haben sich aufgemacht, nicht nur digitale Lösungen für analoge Zwecke zu nutzen, sondern PhilTech — digitale Innovation, Entrepreneurship oder Aktivismus — selbst zu fördern. Das Wirkungspotenzial wäre gewaltig, weil gerade mehrere Technologietrends zusammen treffen und neue Möglichkeiten für kostengünstige, kollaborative, schnell skalierende, sichere und selbstlernende Lösungen schaffen.

Hardware hoch Vernetzung hoch Software

Der erste Trend ist alt: Moore’s Law der regelmäßigen Verdopplung der Rechenleistung hat mittlerweile dazu geführt, dass Computer fast beliebig miniaturisiert zu fast beliebig niedrigen Preisen verfügbar sind. Der zweite liegt ebenfalls auf der Hand: Im Internet of Things sind mittlerweile über 20 Milliarden Geräte verbunden. Jünger und weniger leicht greifbar, aber noch wirkungsmächtiger sind drei Trends in der offenen Software-Entwicklung: Auf Plattformen wie GitHub teilen über 25 Millionen Entwickler ihren Code und können in kürzester Zeit komplexe Projekte aus Bausteinen zusammen setzen. Zweitens ermöglichten offene Technologien wie Hadoop kostenlos die automatisierte und verteilte Analyse großer Datensets. Und schließlich lassen sich mit Blockchain-Architekturen öffentliche Datensätze manipulationssicher machen, indem sie kryptographisch verkettet und voneinander abhängig sind.

Beinahe kostenlose, über das Internet vernetzte Hardware, gekoppelt mit frei verfügbarer Software, die Big Data nutzen und fälschungssichere Informationen produzieren kann: Erst seit wenigen Jahren liegen die Werkzeuge für jeden Menschen fast umsonst auf dem Tisch der sprichwörtlichen Startup-Garage — eine enorme Kraft, die auch mehr bewirken kann als nur ein schrittweises Verändern von Stiftungsarbeit.

Szenarien der Disruption

An wenigen Orten ist die digitale Disruption so greifbar wie im größten (Stiftungs-)Projekt aller Zeiten: Die Wikipedia ist kaum 15 Jahre alt. Aber sie hat bewiesen, dass Millionen Menschen statt Konsumenten auch Mitmacher, Mitunternehmer, Miteigentümer sein können. Das Prinzip ist inzwischen überall, es pulverisiert Geschäftsmodelle, verwischt Sektoren- und Ländergrenzen. Thomas Friedman fasst die neue Logik anschaulich zusammen: “Uber, the world’s largest taxi company, owns no vehicles. Facebook, the world’s most popular media owner, creates no content. Alibaba, the most valuable retailer, has no inventory. And Airbnb, the world’s largest accommodation provider, owns no real estate. Something interesting is happening.”

Jede Branche hat sich bisher von Disruption sicher gewähnt — bis sie kam. Das Internet ist der Tod der Mittelsmänner. Stiftungen waren immer mehr, müssen mehr bleiben als Mittelsmänner zwischen Kapital und Wirkung. Was ist in Zukunft ihre wertvollste Rolle? Sprunghafte Veränderung ist notorisch schwierig vorauszusehen, aber mir scheinen drei Denkrichtungen plausibel.

Erstens ermöglicht das Internet statt aufwändiger, aktiver Stiftungsarbeit auch automatisierte, passive Mobilisierung und Verteilung von Mitteln. Bereits heute nutzen Stiftungen wie die deutsche Guerrilla Foundation mit partizipativem Grantmaking verteilte Intelligenz statt selbst Anträge zu bewerten. Als nächstes sind die Maschinen dran. Das beginnt bei der algorithmischen Bewertung eingehender Förderanfragen wie sie etwa die Ontario Trillium Foundation bereits anwendet, und könnte in der automatisierten Bewilligung von Direkthilfe etwa beim Auslösen einer bestimmten Erdbebenstärke enden. Mit „smart contracts“ könnten automatische Auszahlungen und Kontrollen erfolgen, ob traditionell über Banken oder transaktionskostenfrei über Cryptowährungen. Die ersten Anwender wären bereits passiv verwaltete Spenden- und Stiftungsvermögen gibt es in sogenannten „Donor Advised Funds“ bereits in gewaltigem Umfang, und verwaltete Treuhandstiftungen nehmen auch in Deutschland an Bedeutung zu. Das rapide Wachstum der mit Indexfonds bis Robo-Advisor passiv investierten Vermögen könnte den Weg auch für die Philanthropie weisen.

Wenn Millionen Menschen miteinander an Ideen arbeiten, ersetzen zweitens Kooperationsplattformen herkömmliche Organisationen mit ihrer internen Wertschöpfung. Stiftungen sind heute noch meist sehr selbständige Institutionen, die von der Vermögensanlage über die Projektauswahl, von der Projektförderung bis zur Evaluierung alle wesentlichen Prozesse ihrer Arbeit mit eigenem Personal organisieren. Die „Platform Economy“ könnte die hochqualifizierten Profis in Stiftungen genauso überflüssig machen wie in zahlreichen anderen Branchen. Wer Mitmacher („flows“) von außerhalb der eigenen Organisation mobilisieren kann, bewegt mehr als wer sich auf statische Vorratshaltung („stocks“) an Ressourcen und Expertise innerhalb der eigenen Organisation verlässt. Die Testfrage lautet: Wie viel Stiftungsvermögen wäre vonnöten gewesen, um aus Erträgen Personal zu bezahlen, das eine Wikipedia hätten schreiben können? Danny Sriskandarajah, Londoner Chef des NGO-Netzwerks Civicus, diagnostiziert bereits „Peak Charity“, den Scheitelpunkt professioneller Förderstrategien zugunsten einer weltweit verteilten Intelligenz von Social Entrepreneurs, Engagierten und Hobbyisten, die den traditionellen Stiftungen den Rang ablaufen wird. In Deutschland kann man Vorläufer einer solchen Entwicklung etwa bei den offenen Transferprojekten der Stiftung Bürgermut oder offenen Netzwerken wie den BMW Young Leaders oder dem Changemaker XChange beobachten.

Aber Stiftungen könnten in einem dritten Denkmodell auch dramatisch an Bedeutung gewinnen, als Antwort auf die Frage: „Wem gehört das Internet?“. Als Eigentümer digitaler Infrastrukturen wären sie unabhängig von Regierungen, streng kontrolliert, verankert in der Zivilgesellschaft. Anfänge sind bereits zu beobachten: Schon heute hat die Netz-Community viele zentrale Projekte in eigene Stiftungen wie die Mozilla Foundation, die Apache Foundation oder die Wikimedia Foundation eingebracht. Und die Startup-Wirtschaft bietet auch Stiftungen Beteiligungsmöglichkeiten. Was wäre, wenn die Knight Foundation Twitter als Miteigentümer übernommen hätte, als der Gründer Jack Dorsey zu Beginn dort vergeblich anklopfte, um Förderung zu suchen? Das deutsche Startup nebenan.de hat bereits eine Stiftung gegründet, um eine Heimat für digitales Nachbarschafts-Engagement zu werden. Die Philanthropie der nächsten Generation beginnt, die Logik von Startup und Stiftung zu verbinden. Heute gehört das Internet den Geeks und Wagniskapitalgebern. Warum nicht morgen über Stiftungen auch der Gesellschaft selbst?

Alles kann, nichts muss?

In vielen Gesprächen über die Folgen der Digitalisierung für Stiftungen treffe ich — neben dem Ignorieren — grob drei Haltungen an: Beharren, Mithalten oder Gestalten. Für das Beharren spricht Einiges. Immerhin sind Stiftungen auf Dauerhaftigkeit angelegt und haben die Freiheit, sich Moden zu entziehen. Vor dem Mithalten läge zunächst das Aufholen, und vor dem Gestalten der Wandel im Kopf. Einen schönen Tweet von @jasonricci dazu habe ich neulich markiert: “data-driven, tech-forward future #philanthropy: 10% #tech, 90% paradigm shift“.

Stiftungen gibt es seit Menschen durch den Ackerbau erstmals Überschüsse erzielt haben. Sie haben sich immer verändert. Weder Ressourcen noch Zwecke werden ihnen ausgehen. Sie werden überleben. Wenn sie ihre Bedeutung aber auch in der Digitalisierung erhalten oder ausbauen wollen, könnten sie die Ermutigung dafür nicht nur auf Twitter, sondern auch schon beim Bundespräsidenten und Stiftungsmitgründer Gustav Heinemann finden: „Wer nichts verändern will, wird auch das verlieren, was er bewahren möchte.“

https://www.saz.com/de/wenn-stiftungen-den-paradigmen-schalter-umlegen-sind-sie-2050-bei-der-digitalisierung-ganz-vorn

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Felix Oldenburg

Co-founder bcause, board gut.org, previously CEO @stiftungstweet, father, author, geek, social entrepreneur, long time with @Ashoka