Der Club der nächsten Stifter

Felix Oldenburg
9 min readNov 29, 2020

Wohin entwickelt sich das Stiften? Eine Spurensuche durch aktuelle Trends, Transformationen und Wiederentdeckungen (zuerst erschienen 2020 im Magazin “Stiftungswelt”)

In einer schönen Berliner Altbauwohnung treffen sich ein Dutzend gute Bekannte überwiegend aus der Startup-Szene zum Dinner. Wir sprechen über Finanzierungsrunden, über Familie, die aktuellen politischen Geschehnisse — und bald auch über Geld. Jede und jeder am Tisch hat Vermögen, das deutlich über den eigenen Bedarf oder auch den einer Familie hinausgeht — und interessiert sich weniger für teure Uhren oder Segelyachten als vielmehr für die Frage: „Wie können wir die Welt verbessern?

Als die Rede auf Stiftungen kommt, sind aber auch die sonst in Finanzfragen überaus ausgebufften Gründer und Investoren am Tisch unsicher. Sie haben die Stiftungen der Eltern- und Großelterngeneration vor Augen, die sie eher als statisch und unflexibel empfinden. Wie in ihren Unternehmen hinterfragen sie alles, suchen auch in ihrem gesellschaftlichen Engagement nach der Disruption, den Nischen, der Skalierung. Sie sind überrascht, als ich ihnen erzähle, wie viele Gestaltungsmöglichkeiten ihnen die Rechtsform der Stiftung bietet. Einige aus der Runde sehen wir wenige Wochen später bei uns im Haus Deutscher Stiftungen wieder, wo sie sich zu den rechtlichen Voraussetzungen einer Stiftungsgründung beraten lassen

“Wie die meisten meiner Freunde erwarte ich auch von meinem philanthropischen Engagement, dass es unternehmerisch funktioniert.” Verena Pausder (40), Digitalunternehmerin

“Klar ist das ein Thema für mich, aber ich habe noch große Rückfragen an das Modell Stiftung, bevor ich mich festlegen will.” Rubin Ritter (37), Vorstand, Zalando

Reise durch Stiftungsdeutschland

Es sind Orte wie diese, an denen ich in den letzten Jahren erleben durfte, wie das nächste Stiften Form annimmt. In diesem Artikel möchte ich Sie auf eine Reise mitnehmen, die man wie alle Reisen am besten mit großer Offenheit für das Neue und mit Hinterfragen des eigenen Standpunkts beginnt. Sie wird uns von den Arbeits- und Esstischen der Berliner Gründerszene über Amtszimmer der Bundesministerien, fluchtartig verlassene Büros in Budapest bis in den äußersten Südwesten der Republik, ins badische Lörrach, führen, und von dort aus über das einzige Hotel in Wipperfürth im Bergischen Land und das Fußballstadion in Duisburg zurück nach Berlin in das Schloss Bellevue.Der Bundesverband erfasst bei seinen Mitgliedern das Alter der Stiftenden nicht systematisch. Dennoch wissen wir, dass sich unter den über fünfhundert Neumitgliedern der vergangenen drei Jahre ungewöhnlich viele Gründerinnen und Gründer finden, die schon zu Beginn statt am Ende ihrer Laufbahn stiften. Und damit beginnen erst die Gemeinsamkeiten zwischen Organisationen wie der Guerrilla Foundation, der nebenan.de-Stiftung oder der Purpose Stiftung. Sie stören sich nicht daran, Anliegen auch offensiv in den politischen Raum zu tragen, sie verbinden eine gemeinnützige mit einer unternehmerischen Vision, sie binden viele Interessierte in verantwortlichen Rollen ein, sie denken und handeln entlang von Ideen, die nicht an Landesgrenzen enden. Und sie werden seltener als Stiftungen bürgerlichen Rechts und häufiger als Stiftungen in Form eingetragener Vereine oder gemeinnütziger GmbHs gegründet.

Diese Trends sind freilich keine Domäne der Jüngeren. Die Kreuzberger Kinderstiftung hat schon eine längere Geschichte hinter sich, als sie sich als gemeinnützige Stiftungs-Aktiengesellschaft sozusagen ein zweites Mal gründet. Der Stifter Peter Ackermann erzählt bei einem Spaziergang im Garten des Stiftungshauses am Berliner Landwehrkanal, wie ihn dazu die Vision einer Übergabe in viele Hände inspiriert hat. Die Stiftung versteht er nicht als sein eigenes Instrument, sondern als Plattform für viele, die Ideen, Engagement oder Geld beitragen. Diese Öffnung für Mitstiftende ist natürlich auch eine Antwort auch auf die Niedrigzinsphase, die er wie fast alle anderen Gesprächspartner in diesem Artikel als prägende Herausforderung für die eigene Stiftung empfindet.

Die oftmals engen Grenzen für die Bewirtschaftung eines Grundstockvermögens sind auch ein Thema am anderen Ende Deutschlands, im badischen Lörrach. Dort beschreibt der Stifter Hans Schöpflin eine andere Lösung. Er verwaltet sein philanthropisches Vermögen in einem Family Office, und die Stiftung arbeitet aus Erträgen, die ihr jährlich überwiesen werden. Family Offices sind Verwalter des Vermögens einer Eigentümerfamilie in eigener Hand, und ihr Aufstieg in den vergangenen zwei Jahrzehnten hat zunehmend auch dazu geführt, dass sie für viele Familien auch im stifterischen Engagement eine zentrale Rolle spielen. Eine Konsequenz: Die Budgets der Stiftungen sind immer häufiger deutlich größer als sich aus dem Vermögensstock und seinen Erträgen allein erklären ließe. Ist die Zeit neuer großer Stiftungsvermögen vielleicht vorbei?

“Mein Vermögen wird im Family Office verwaltet. So bin ich flexibel, was die Zuwendungen an meine Stiftungen angeht.” Hans Schöpflin (78), Investor und Stifter, Schöpflin Stiftung

Lieblingslösung der Politik

Die Suche nach den finanzstärksten Stiftungsgründungen unserer Zeit führt uns auch deshalb aus den Privathäusern hinaus und ausgerechnet in die Amtsstuben der Ministerien. Die Stiftung ist inzwischen zu einer Art Lieblingslösung der Politik geworden, und die Öffentliche Hand zur größten Stifterin Deutschlands. Die RAG-Stiftung, die vor zwölf Jahren zur Abwicklung des Steinkohlebergbaus gegründet wurde und inzwischen 17 Milliarden Euro schwer ist, wurde vor zwei Jahren noch durch den „Atomfonds“ übertroffen. In der Stiftung des öffentlichen Rechts sollen 24 Milliarden Euro so angelegt werden, dass alle zukünftigen Kosten der kerntechnischen Entsorgung gedeckt sind.

Weil aber selbst große Vermögen inzwischen innerhalb der Risikoparameter von Stiftungen kaum noch ertragsstark anzulegen sind, ist ein anderes Modell häufiger anzutreffen: Wie bei der Deutschen Stiftung für Engagement und Ehrenamt, deren Gründung im mecklenburgischen Neustrelitz nach einem richtigen Politik-Krimi über konkurrierende Bundesministerien jetzt doch zustande kommt, sind die meisten Stiftungsgründungen der Politik von jährlichen Haushaltszuweisungen abhängig.

Fast wären in dieser Legislaturperiode noch zwei weitere prominente Stiftungen entstanden: Das britische „National Endowment for Science, Technology and the Arts“ (NESTA) hatte der Bundesregierung vorgeschlagen, eine deutsche Innovationsstiftung zu gründen. Auch weil kein Vermögen zusammen kam, das einen nennenswerten Ertrag hätte generieren können, gibt es jetzt in einem ersten Schritt eine laufend finanzierte Agentur für Sprunginnovationen.

“Das Thema Digitalisierung braucht in Deutschland mehr Wumms. Eine Stiftung wäre für Deutschland gut.” Valerie Mocker (28), Stiftungsinitiatorin, NESTA

Die neueste politische Stiftungsidee ist nur einige Wochen alt: Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier schlug vor einigen Wochen sogar eine bis zu 50 Milliarden Euro schwere Klimastiftung vor, an der sich auch Bürgerinnen und Bürger über Spenden sowie eine Art verzinste Anleihe hätten beteiligen können. Die Stiftung ist als Instrument für Ewigkeitslasten und vom Politikalltag unabhängige Förderaufgaben kaum noch aus der Politik wegzudenken.

„Ich plädiere für eine Klima-Stiftung, die Anleihen vergeben soll — mit einem garantierten Zinssatz von zwei Prozent über zehn Jahre.“ Peter Altmaier (61), Bundeswirtschaftsminister

Welche Umfelder brauchen Stiftungen?

Dass internationale Stiftungen zunehmend Deutschland als (zusätzlichen) Standort wählen, ist eine weitere Auffälligkeit, wenn man sich mit der aktuellen Entwicklung des philanthropischen Engagements beschäftigt. Mit dem britischen Wellcome Trust, der Bill and Melinda Gates Stiftung und den Open Society Foundations (OSF) sind drei der fünf größten Stiftungen seit kurzem in Berlin präsent. Besonders der durch politische Repressalien erzwungene Umzug der OSF aus Budapest könnte einen Trend auslösen. Denn ihre verlassenen Büros in der ungarischen Hauptstadt sind für die Zivilgesellschaft ein Symbol dafür, dass Stiftungen zur Not umziehen und jenseits der Landesgrenzen tätig sein können, wenn der politische Druck zu groß wird.

Eine eigene Meinung zu vertreten, grenzüberschreitend zu arbeiten oder ganz seinen Sitz zu verlegen, das sind Freiheiten, die in Europa eigentlich für alle garantiert sind. Stiftungen können von einer entsprechenden Rechtssicherheit nur träumen. Auch wegen der „Causa OSF“ gibt es in Brüssel erstmals ernste Diskussionen über eine aktive Stiftungspolitik. Denn auch Stiftungen brauchen mehr als das Geld und den Willen einer Einzelperson hinter sich.

Dass Stiftungen sozusagen ein Ökosystem brauchen, um zu wachsen, ist an wenigen Orten so gut zu beobachten wie drei Autostunden von Brüssel entfernt im nordrhein-westfälischen Wipperfürth, in der unter anderem die Hans Hermann Voss-Stiftung ihren Sitz hat. Der Namensgeber hat sein Maschinenbau-Unternehmen, die heutige Voss-Gruppe, ins Eigentum seiner Stiftung überführt und damit auch Mitarbeiter wie die Eheleute Friedrich inspiriert. Nach dem Tod ihres einzigen Kindes haben sie ebenfalls eine Stiftung gegründet. Und Voss ist auch das Vorbild für die Keyser-Stiftung, der ein Nischenweltmarktführer für Raumfahrttextilien gehört.

Bei meiner Reise durch Stiftungsdeutschland mache ich in der kleinen Stadt im Bergischen Land Halt, um mich im einzigen Hotel am Platz mit Vertreterinnen und Vertretern der überaus lebendigen Stiftungsszene vor Ort zu unterhalten. Auch eine Treuhandstifterin sitzt am Tisch. Sie fördert weltweit Projekte aus den Erträgen ihres Unternehmens für Krankenhaus-Rufsysteme. Viele der Stiftenden unterstützen auch die Bürgerstiftung „Wir Wipperfürther“, die unter anderem einen ausgedienten Bahnhof in ein Kulturzentrum umgewandelt hat. Und so wie es an vielen Orten jemanden aus einer Volksbank oder Sparkasse gibt, der bei den praktischen Fragen hilft, ist auch in Wipperfürth ein engagierter Vermögensberater unterwegs. Er erzählt von der Kersting-Stiftung, die gerade ein Altenheim baut.

“Stiftungen brauchen Umfelder, in denen sie gedeihen können: Vorbilder, Ermutigung und konkrete Unterstützung.” Johanna Holst (41), Hermann-Voss-Stiftung

Neue, alte Aufgaben

Wie Stiftungen besser zusammenwirken können, diese Frage beschäftigt alle, mit denen ich mich auf meinen Reisen unterhalte. Im Stadion des MSV Duisburg treffen sich die Entscheider einiger Fußballstiftungen. Bei Stadionbier und Cola geht es darum, wie sie gemeinsam mehr bewirken können. Der Profifußball ist eine Art Petrischale für Stiftungen geworden. Ob auf Vorschlag ihrer Berater oder inspiriert durch prominente Kollegen, gründen inzwischen viele Profis eigene Stiftungen. Eine Frage wird hier genauso wie an anderen Orten der Stiftungsszene heiß diskutiert: Könnten die großen Stiftungen nicht das Vermögen kleinerer Stiftungen poolen oder gar zu Stiftungsverwaltungen werden? Vielleicht könnten sie auch im Vorfeld einer Gründung helfen zu entscheiden, ob Stiftende nicht besser beraten wären, mit ihren Mitteln zu einer bestehenden Stiftung beizutragen.

Eine andere Entwicklungsrichtung für das Stiften begegnet mir in Hannover, von wo aus der Stifter Armin Steuernagel mittlerweile eine kleine Bewegung antreibt, die sich der Frage widmet: „Wem soll unternehmerisches Vermögen in Deutschland gehören?“. Der Jungunternehmer ist noch nicht dreißig Jahre alt, hat aber schon Unternehmen, die in über einem Dutzend Ländern erfolgreich sind. Er wollte, dass seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die gleiche Identifikation für das Unternehmen entwickeln wie er selbst — und entdeckte das Modell von Carl Zeiss und der vielen Unternehmer, die seinem Vorbild gefolgt sind, indem sie ihr Eigentum in Stiftungshand überführt haben, oder wie er es nennt, „in Verantwortungseigentum“. Inzwischen ist Steuernagel Motivationsredner, Berater und Investor in einem — und kann sich vor Nachfrage kaum retten. Man muss nicht weit reisen, um die mögliche Wirkung zu erkennen: Wären hierzulande so viele Unternehmen in Stiftungseigentum wie im Nachbarland Dänemark, hätten wir zehnmal so viele Fördermittel wie aktuell.

„Immer mehr Unternehmer möchten die Werte des Unternehmens langfristig erhalten, auch unabhängig von der Familie. Dafür ist die Stiftung eine unterschätze Lösung, die heute neu erklärt werden muss.“ Armin Steuernagel (29), Unternehmer und Stifter

Die Fragen der nächsten Stifter

Ob in Berlin, Lörrach, Wipperfürth, Duisburg oder Hannover, das Stiften steht nicht still. Es entwickelt sich ständig weiter, wie schon immer in seiner jahrhundertealten Geschichte. So unterschiedlich die Protagonisten für das nächste Stiften auch sind, so ähnlich sind ihre Fragen: Wie kann ich aus Vermögen heute noch Erträge oder Wirkung herausholen? Muss ich mir Sorgen um meine Haftung machen, wenn ich Risiken eingehe? Kann sich meine Stiftung mit anderen zusammentun? Wie gelingt es mir, Zustiftungen oder Verbrauchsvermögen anzuziehen? Wie kann ich zuverlässig wissen, ob meine Mittel auch wirklich ankommen und meine Projekte Wirkung entfalten? Und wie und wo sollen wir in einer veränderten Engagementkultur die nächsten Mitmacher und Gremienmitglieder finden?

“Wenn Stiftungen mit ihrem Vermögen in soziale Projekte investieren könnten, würden sie ihre Wirkung vielleicht vervielfachen.” Alexandra Heraeus (30), Erbin und Mitarbeiterin bei der Finanzierungsagentur für Social Entrepreneurship FASE

“Wir möchten das Unternehmen dauerhaft an den guten Zweck binden. Eine Stiftung könnte ein Teil der Lösung sein, aber nicht gerade der, der den meisten gleich einfällt.” Jonna Meyer-Spasche (41), Familienmitglied und Stakeholdermanagement, Bohlsener Mühle

Einen Teil der Antwort könnte die überfällige Reform des Stiftungsrechts geben, deren Schicksal sich in diesen Wochen entscheidet. Sie soll Haftungsfragen klären, das Recht bündeln, die Aufsicht vereinheitlichen, Zusammenlegungen ermöglichen und endlich ein Stiftungsregister schaffen. Es geht um nichts weniger als einen zeitgemäßen rechtlichen Rahmen, ohne den das Stiften sich kaum weiter entwickeln kann. Im Oktober sind über tausend Stiftungen dem Aufruf des Bundesverbandes Deutscher Stiftungen gefolgt und haben Briefe an ihre Wahlkreis-Abgeordneten geschrieben, damit das Vorhaben endlich den Platz auf der Agenda der Großen Koalition bekommt, den es im Sinne des Gemeinwohls verdient.

Ein möglicherweise visionärer Teil der Antwort soll am letzten Ort unserer Reise entstehen: Ende Oktober hat Bundespräsident Frank Walter Steinmeier eine kleine Runde von Vermögenden zu einem Abendessen in das Schloss Bellevue eingeladen. Ausgangspunkt ist ein Befund, der Sorgen machen muss: Vergleicht man die dynamische Entwicklung der Privatvermögen in Deutschland mit der eher stagnierenden Entwicklung der Vermögen bestehender und neuer Stiftungen, ist eine Lücke von über zwanzig Milliarden Euro aufgegangen. Sind die Reichen weniger großzügig geworden? Oder glauben sie, bei der Bewältigung der großen Herausforderungen keine Rolle spielen zu müssen? Im Gespräch mit Menschen, die bereits Stifter sind oder die es werden könnten, wird klar: Daran liegt es nicht. Aber es gibt viele Hürden. Wir diskutieren, was Vermögende erleben, wenn sie ihren Reichtum zeigen, welche Fragen sie an die Wirksamkeit traditioneller Spenden haben, aber auch, wie bereit sie sind, für neue Antworten auf ökologische und gesellschaftliche Herausforderungen große Mittel bereit zu stellen. Der Abend endet mit einem Auftrag für eine Arbeitsgruppe, die ein Jahr später Empfehlungen vorlegen soll — für eine aktive Stiftungspolitik, für ein nächstes Stiften.

Die Zukunft des Stiftens ist wie immer wieder am Anfang.

“Meine Generation muss Ernst machen mit ihren guten Vorsätzen, und die vielen Erben darunter müssen es Sinn bringend einsetzen. Auch die Stiftungen könnten dann etwas bunter werden.” Antonis Schwarz (31), Stifter

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Felix Oldenburg

Co-founder bcause, board gut.org, previously CEO @stiftungstweet, father, author, geek, social entrepreneur, long time with @Ashoka