Berlin: Stadt der Freiheit und Fürsorge

Felix Oldenburg
2 min readJun 17, 2021

Dieser Artikel erschien am 27. Januar 2021 im Tagesspiegel in der Serie “75 Visionen für Berlin”

Erneut steht unserer Stadt ein bewegtes Jahrzehnt bevor: Corona hat den Epochenwandel der Digitalisierung beschleunigt, ihn direkt in unseren Alltag gebracht mit Homeoffice, Zoom-Unterricht und Online-Konzerten. Für die Zeit nach Corona stelle ich mir vor, dass zu den vielen Erzählungen Berlins eine neu hinzukäme: Die einer Stadt der Freiheit und Fürsorge im digitalen Zeitalter.

Diese Geschichte hat bereits viele Kapitel: Welche Stadt steht so sehr wie unsere für die Freiheit der Rede und der Versammlung? In Berlin fanden in den letzten Jahren der Chefredakteur der türkischen „Cumhuriyet“, die engste Vertraute von Edward Snowden oder die ungarischen Aktivisten der Open Society Foundations Schutz.

Unsere Hauptstadt ist zu einem Zufluchtsort für viele geworden, die sich digital gegen autoritäre Regime zur Wehr setzen. Ich wünsche mir eine Stadt, die den politischen Mut hat, diese Rolle anzunehmen und für die Freiheitskämpfer und -kämpferinnen des Informationszeitalters einen sicheren Ort zu bauen — vielleicht im Stasi-Areal in der Normannenstraße?

Zur Freiheit kommt die Fürsorge. Über sie wird weniger oft in den Nachrichten berichtet. Aber gegen grassierende Vereinzelung hilft nur ein starkes Miteinander. In welcher Stadt ist so viel Gutes im Internet entstanden

Im Jahr 2020 kamen mehr Online-Spenden von Berlinerinnen und
Berlinern zusammen als je zuvor. Im Internet sind zivilgesellschaftliche Projekte für ein besseres Internet zu Hause wie NETTZ oder Algorithm Watch.

Nach Berlin fließt mehr Wagniskapital als in irgendeiner anderen Stadt auf dem europäischen Festland. In den vergangenen Jahren sind dadurch viele neue Vermögen entstanden. Ich wünsche mir eine Stadt, die daraus mehr macht als den nächsten Lieferdienst. Wie wäre es mit einem Gründerzentrum für gemeinwohlorientierte Startups, einem Accelerator für digitale Sozialunternehmen? Im Stadtschloss ist sicher noch ein Stockwerk frei.

Die Digitalisierung steckt voller Widersprüche. Vor lauter kaputten Elektrorollern auf Fußwegen ist es schwer, sich die smart-integrierte Mobilität von morgen vorzustellen. Angesichts von Lernplattformen, die gleich am ersten Tag in die Knie gehen, bedarf es Fantasie, sich mehr digitale Bildung zu wünschen.

Aber kennt sich diese Stadt denn nicht besonders gut mit Widersprüchen aus? Mit der Digitalisierung ist es wie mit dem Stau: Wer darüber schimpft, steht meist selbst drin. Bauen wir eine Melde-App gegen Einsamkeit, ein Hilfsnetz für Obdachlose, eine Gendatenbank, die Krankheiten besiegt, oder Crowd-Stiftungen, mit denen wir gute Ideen finanzieren. Wann, wenn nicht jetzt — und wo, wenn nicht hier?

— Felix Oldenburg ist Vorstand der gemeinnützigen Aktiengesellschaft gut.org, die die Spendenplattform Betterplace betreibt. Zuvor leitete er den Bundesverband Deutscher Stiftungen und das Sozialunternehmer-Netzwerk Ashoka.

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Felix Oldenburg

Co-founder bcause, board gut.org, previously CEO @stiftungstweet, father, author, geek, social entrepreneur, long time with @Ashoka